§ 6 Rahmenvertrag: Was zählt die ärztliche Therapiefreiheit noch?

Wenn die Arzneimittelversorgung durch die Apotheken zunehmend durch praxisferne, vertraglich legitimierte Retaxationen und solche, für die es keinerlei rechtliche Grundlagen gibt, beeinflusst wird, dann macht das Bemühen, die Patienten therapiegerecht zu versorgen, immer weniger Sinn. Die Abgabe nach „praxisuntauglichen“ Vorgaben könnte auch ein Computer übernehmen. Letzterer hätte zumindest keinerlei moralische Bedenken bezüglich seiner „Versorgung“.

Wenn sich die Versorgung durch die Apotheken künftig vorwiegend auf die folgende Frage konzentrieren muss, die uns eine Apotheke stellte, die zu Unrecht retaxiert wurde,

„Wie sollen wir das denn sonst beliefern? Haben Sie noch eine Idee, wie wir dem Wahnsinn Einhalt gebieten können?“

dann sind nicht nur die Apothekenvertreter, sondern auch Krankenkassenverbände und die Politik gefordert – und zwar um die Rechte der Patienten und das Berufsbild der Apotheker zu wahren.

Der Retaxfall

Krankenkasse: Siemens Betriebskrankenkasse
Verordnet:Oekolp Ovula 0,03 mg VSU 20 St. N3
Oekolp Ovula 0,03 mg VSU 10 St. N1
Verordnungs- und Versorgungsdatum:30.01.18

Die Krankenkasse gestand der Apotheke nur zu, die Versicherte mit 20 St. Ovula zu versorgen. Die restlichen ebenfalls abgegebenen 10 St. Ovula, die ärztlich gewünscht und von der Patientin benötigt wurden, musste die Apotheke – wie schon so oft – aus eigener Tasche bezahlen.

Es verblieb zwar kein großer Betrag (netto 6,93 Euro, brutto 13,70 Euro inkl. Zuzahlung und Rabatt),

jedoch geht es hier nicht um die Höhe der Retaxation, sondern um das Grundverständnis der Berufsausübung in der Apotheke. Zudem mussten wir bei dieser Thematik auch schon über therapiewidrige Retaxationen in Höhe von mehreren Tausend Euro berichten.

Als Begründung des Rezeptprüfungsdienstleisters musste erneut der alte § 6 Rahmenvertrag herhalten, der trotz des Versuchs einer klärenden Erweiterung im neuen § 3 Rahmenvertrag unverändert bei „Retaxeuren“ sehr beliebt ist:

Die Apotheke hat zurecht Einspruch erhoben, da

  • sie die ärztlich exakt benötigte Menge auf die wirtschaftlichste und einzige Weise mit den im Handel befindlichen Packungsgrößen beliefert hatte (= 20 St. N3 + 10 St. N1),
  • eine Versorgung mit nur einer N3-Packung à 20 St. das Therapieziel gefährdet hätte und
  • eine – nach Ansicht der Prüfstelle zulässige – Versorgung mit zwei N3-Packungen zur Entsorgung von 10 Ovula geführt hätte, was weder wirtschaftlich im Sinne der Solidargemeinschaft noch im Sinne der Umwelt gewesen wäre.

Wären manche Krankenkassen und deren Rezeptprüfungsdienstleister dieser Argumentation zugänglich, so gäbe es diese therapeutisch und wirtschaftlich unsinnige Vergeudungsvorschrift nicht benötigter Arzneimittel vermutlich schon lange nicht mehr – zumal wir schon mehrmals auf die Gründe hinweisen mussten, weshalb der § 6 Rahmenvertrag in solchen Fällen keine Anwendung finden darf:

1. Rahmenvertrag

Der § 6 (3) Rahmenvertrag bezieht sich nur auf nach Stückzahl verordnete Mengen. Dies wäre der Fall, wenn der Arzt in einer Verordnungszeile die nicht im Handel befindliche Gesamtmenge „Oekolp Ovula 30 St.“ verordnet hätte. Er hat jedoch in Kenntnis der handelsüblichen Packungsgrößen eine eindeutig bestimmte Menge an Packungen verordnet, indem er einer N3 mit 20 St. eine zweite Verordnungszeile über eine N1 mit 10 St. hinzugefügt hat. Für solche eindeutig bestimmte Verordnungen findet der § 6 (3) Rahmenvertrag keine Anwendung.

6 (3) Rahmenvertrag

„Überschreitet die nach Stückzahl verordnete Menge die größte für das Fertigarzneimittel festgelegte Messzahl, ist nur die nach der geltenden Packungsgrößenverordnung aufgrund der Messzahl bestimmte größte Packung oder ein Vielfaches dieser Packung, jedoch nicht mehr als die verordnete Menge abzugeben. Ein Vielfaches der größten Packung darf nur abgegeben werden, soweit der Vertragsarzt durch einen besonderen Vermerk auf die Abgabe der verordneten Menge hingewiesen hat.“

Keine der „alten“ Vorschriften des § 6 Rahmenvertrags rechtfertigt hier eine Retax, denn diese beziehen sich ausschließlich auf Stückzahlverordnungen oder Verordnungen über nicht existierende N-Größen.

Stattdessen greift hier die für noch nicht geregelte Versorgungen getroffene „Übergangsvereinbarung“ in § 3 (1) Nr. 7e Rahmenvertrag, die bis zu einer verbindlichen Regelung in den regionalen Verträgen gelten soll:

3 (1) Nr. 7e Rahmenvertrag

„Der Vergütungsanspruch des Apothekers entsteht trotz nicht ordnungsgemäßer vertragsärztlicher Verordnung oder Belieferung dann, wenn […]

  • es sich um einen unbedeutenden, die Arzneimittelsicherheit und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung nicht wesentlich tangierenden, insbesondere formalen Fehler handelt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn […]

7. bezogen auf den Rahmenvertrag

e. die Apotheke bei einer Verordnung, für die § 6 dieses Vertrages keine Regelung enthält, unter Beachtung der Wirtschaftlichkeit und des Vorranges der Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel Packungen bis zu der vom Arzt insgesamt verordneten Menge abgibt (§ 31 Abs. 4 SGB V).“

Und genau dies hat die hier versorgende Apotheke schließlich getan!

2. Der Deutsche Apothekerverband

Auch der Deutsche Apothekerverband (DAV) als Vertragspartner der gesetzlichen Krankenkassen vertritt die Meinung, dass die Belieferung einer eindeutig bestimmten Normgrößenverordnung im neuen § 3 Rahmenvertrag geregelt und möglich ist. Dazu ein Ausschnitt aus dem Fragenkatalog zum § 3 Rahmenvertrag des DAV:

3. Falsche Umsetzung der gesetzlichen Vorgabe des SGB V

Die gesetzliche Vorgabe des § 31 (4) SGB V ist seit Jahren in § 6 Rahmenvertrag nicht korrekt umgesetzt, da im SGB V nur die Abgabe einer Fertigarzneimittelpackung geregelt ist, deren Packungsgröße die größte der aufgrund der Verordnung nach Satz 1 bestimmte Packungsgröße übersteigt. Nur solche Packungsgrößen sind gesetzlich von der Versorgung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen worden. Die Abgabe von mehreren, therapeutisch benötigten Packungen und deren addierter Inhalte hat der Gesetzgeber nie untersagt!

4. Die Rechtsprechung

Dies wird auch in der aktuelleren Rechtsprechung so gesehen. Nachfolgend ein Auszug aus dem Urteil des LSG Thüringen vom 25. August 2015 – L 6 KR 690/12 – juris:

„Ein Verstoß der Klägerin [Apotheke] gegen das in § 129 Abs. 1 SGB V normierte Wirtschaftlichkeitsgebot liegt hier nicht vor. Die Ärzte haben keine unbestimmte Menge von Arzneimitteln verordnet. Schließlich – und damit entfällt auch die Unwirtschaftlichkeit nach § 6 Abs. 3 des Rahmenvertrages –, jedenfalls soweit es die Klägerin betrifft, ist in keiner der vertragsärztlichen Verordnungen eine Verordnung nach Stückzahl erfolgt. Die Ärzte haben vielmehr zahlenmäßig genau bestimmte Packungen […] verordnet. Diese Verordnungen sind eindeutig. Die verordnete Packung existiert auch; es bestand insoweit keine andere Möglichkeit der Erfüllung der vertragsärztlichen Verordnung für die Klägerin.“

Fazit

Die Einspruchsablehnung des Rezeptprüfungsdienstleisters der Krankenkasse ist folglich nicht gesetzes- und vertragsgemäß und somit zurückzunehmen.

Eine Retax wegen „Unwirtschaftlichkeit“ sollte in solchen Fällen nicht mehr ausgesprochen werden, wenn einer Krankenkasse die therapiegerechte Versorgung ihrer Versicherten am Herzen liegt. Was läge daher näher, als in diesem Fall den neuen § 3 (1) 7e Rahmenvertrag anzuwenden und auf eine Retax zu verzichten?

Wie zu lesen ist, dürfen Apotheker, Ärzte und Patienten demnächst auf eine längst überfällige Neufassung des Rahmenvertrags hoffen, die hoffentlich auch diese Fälle endlich eindeutig, interpretationssicher und verständlich regelt.

Apotheker Dieter Drinhaus, DAP Forum

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