SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung: Eindeutig zweideutig?
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Die Apotheke hat seit dem 22. April 2020 erweiterte Austauschmöglichkeiten bei Arzneimittelverordnungen. Ziel ist es, unnötige Patientenkontakte zu vermeiden, z. B. weil ein Rabattarzneimittel zunächst bestellt oder das Rezept durch den Arzt geändert werden müsste. Laut SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung darf die Apotheke dazu von den rahmenvertraglichen Abgabevorschriften abweichen, ohne eine Retaxation befürchten zu müssen. Doch die Formulierungen im Verordnungstext lassen Raum für Interpretationen.
In § 1 Abs. 3 der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) unter anderem Ausnahmen von den Regelungen zur Abgabe preisgünstiger Arzneimittel (z. B. Rabattarzneimittel, vier preisgünstigste Arzneimittel) und zum Aut-idem-Austausch geschaffen.
1 Abs. 3 SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung
„Abweichend von § 129 Absatz 1 Satz 1 bis 5 und 8 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch und dem Rahmenvertrag nach § 129 Absatz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch dürfen Apotheken, wenn das auf der Grundlage der Verordnung abzugebende Arzneimittel in der Apotheke nicht vorrätig ist, an den Versicherten ein in der Apotheke vorrätiges wirkstoffgleiches Arzneimittel abgeben; ist kein wirkstoffgleiches Arzneimittel in der Apotheke vorrätig und ist das abzugebende Arzneimittel auch nicht lieferbar, darf ein lieferbares wirkstoffgleiches Arzneimittel abgegeben werden. Sofern weder das auf der Grundlage der Verordnung abzugebende noch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel vorrätig oder lieferbar ist, dürfen Apotheken nach Rücksprache mit dem verordnenden Arzt ein pharmakologisch-therapeutisch vergleichbares Arzneimittel an den Versicherten abgeben; dies ist auf dem Arzneiverordnungsblatt zu dokumentieren. Satz 2 gilt entsprechend für den Fall, dass der verordnende Arzt den Austausch des Arzneimittels ausgeschlossen hat. Apotheken dürfen ohne Rücksprache mit dem verordnenden Arzt von der ärztlichen Verordnung im Hinblick auf Folgendes abweichen, sofern dadurch die verordnete Gesamtmenge des Wirkstoffs nicht überschritten wird:
- die Packungsgröße, auch mit einer Überschreitung der nach der Packungsgrößenverordnung definierten Messzahl,
- die Packungsanzahl,
- die Entnahme von Teilmengen aus Fertigarzneimittelpackungen, soweit die abzugebende Packungsgröße nicht lieferbar ist, und
- die Wirkstärke, sofern keine pharmazeutischen Bedenken bestehen.
Im Fall der Verschreibung von Substitutionsmitteln nach § 5 Absatz 6 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung findet Satz 4 Nummer 1, 2 und 4 keine Anwendung.“
Was ist mit „wirkstoffgleich“ und „abzugebendem Arzneimittel“ gemeint?
Nach Ansicht des DAP ist das abzugebende Arzneimittel das Arzneimittel, das auf Grundlage der Verordnung entsprechend der gesetzlichen und vertraglichen Regelungen (z. B. Aut-idem-Regelung, Rabattverträge, vier Preisgünstigste etc.) abzugeben wäre. Das im Text benannte wirkstoffgleiche Arzneimittel könnte jedoch, wenn ein aut-idem-fähiges Arzneimittel nicht zur Verfügung steht, in folgenden Punkten von den Aut-idem-Kriterien abweichen, sofern die verordnete Gesamtmenge des Wirkstoffs nicht überschritten wird:
- Packungsgröße, auch mit einer Überschreitung der nach der Packungsgrößenverordnung definierten Messzahl,
- Packungsanzahl,
- Entnahme von Teilmengen aus Fertigarzneimittelpackungen, soweit die abzugebende Packungsgröße nicht lieferbar ist, und
- Wirkstärke, sofern keine pharmazeutischen Bedenken bestehen.
(Bei Substitutionsmitteln darf nicht von Packungsgröße, -anzahl und Wirkstärke abgewichen werden.)
Dementsprechend wäre die Regelung insgesamt wie folgt zu verstehen:
Ist das abzugebende Arzneimittel nicht in der Apotheke vorrätig, darf die Apotheke ein wirkstoffgleiches vorrätiges Arzneimittel abgeben – auch wenn dieses nicht der Abgaberangfolge des Rahmenvertrages entspricht. Ist kein wirkstoffgleiches Arzneimittel vorrätig, kann die Apotheke das abzugebende Arzneimittel wie üblich bestellen und abgeben. Ist das abzugebende Arzneimittel zusätzlich nicht lieferbar, darf ein wirkstoffgleiches Arzneimittel bestellt und abgegeben werden.
Bei der Abgabe eines wirkstoffgleichen Arzneimittels darf die Apotheke entsprechend § 1 Abs. 3 Satz 4 SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung in den genannten Punkten (s. oben) von den Aut-idem-Kriterien abweichen, sofern die verordnete Wirkstoffmenge nicht überschritten wird.
Ist weder das abzugebende noch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel vorrätig oder lieferbar, darf die Apotheke nach Rücksprache mit dem Arzt ein pharmakologisch-therapeutisch vergleichbares Arzneimittel (aut simile) abgeben und dies entsprechend auf dem Rezept dokumentieren.
Regeln des Rahmenvertrags außer Kraft?
Nach Ansicht des DAP sollten die grundlegenden Abgaberegeln des Rahmenvertrags (z. B. Rabattverträge, vier Preisgünstigste), sofern möglich, eingehalten werden. Die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung gibt der Apotheke aber die Möglichkeit, von der Abgaberangfolge bzw. der Aut-idem-Regelung abzuweichen, wenn dadurch zusätzliche Patientenkontakte vermieden werden können. Die Ausnahmeregelungen nach § 1 Abs. 3 der Verordnung sind keine „muss“-Regelungen – die Apotheke „darf“ von den erweiterten Austauschmöglichkeiten Gebrauch machen.
Wie erklärt die ABDA die Ausnahmen von den Austauschregelungen?
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) hat eine Praxiskommentierung zur Verordnung herausgegeben. Dort heißt es hinsichtlich der möglichen Abweichungen von der Abgaberangfolge:
ABDA
„Satz 1 bestimmt, dass die Apotheke, in den Fällen, in denen das verordnete Arzneimittel nicht in der Apotheke vorrätig ist, ein anderes wirkstoffgleiches in der Apotheke vorrätiges Arzneimittel abgeben darf. Ist das nicht möglich, prüft die Apotheke, ob das verordnete (abzugebende) Arzneimittel lieferbar wäre. Ist das verordnete Arzneimittel nicht lieferbar, darf die Apotheke ein anderes lieferbares wirkstoffgleiches Arzneimittel abgeben. Lässt sich trotz dieser Optionen kein Arzneimittel finden, darf die Apotheke nach Rücksprache mit dem Arzt ein pharmakologisch-therapeutisch vergleichbares Arzneimittel an den Versicherten abgeben (Satz 2); dies ist zu dokumentieren. Dies gilt auch, wenn auf dem Rezept das Aut-idem-Kreuz gesetzt ist (Satz 3). Vorrätig ist ein Arzneimittel, wenn es in der Apotheke physisch zu Verfügung steht und abgegeben werden kann. Ziel dieser vereinfachten Abgaberegelung ist es, wiederholte Arzt- oder Apothekerbesuche zu vermeiden.“
Retaxationen sind zwar grundsätzlich untersagt, wenn die Apotheke von den oben genannten Ausnahmeregelungen bei der Rezeptbelieferung Gebrauch macht, dennoch wäre eine genaue Erläuterung bezüglich des Vorgehens bei der Rezeptbelieferung, insbesondere in Hinblick auf die Abweichung von den Aut-idem-Kriterien, von offizieller Seite wünschenswert.